Die Stimmbänder, genauer gesagt, die Stimmlippen sind Muskeln, die man, wie jeden andere Muskel in unserem Körper auf verschiedene Arten trainieren kann um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Wenn man Opern singen möchte, trainiert man die Stimmmuskeln anders, als wenn man Rock, Pop, Musical oder Jazz singen möchte. Natürlich ist es oft so, dass die Anlage einer Stimme von Anfang an in eine bestimmte Richtung zeigt. Interessanterweise geht diese in der Regel konform mit der Vorliebe des Sängers, bzw. der Sängerin. In meiner mittlerweile zwanzig jährigen Laufbahn als Gesangslehrerin habe ich noch nie erlebt, das eine SängerIn eine Rockstimme hat, aber unbedingt Klassik singen wollte oder umgekehrt. Außer bei mir selber. Ich wollte immer Rocksängerin werden. Damals kannte ich allerdings die Oper auch noch nicht;)
Trotz dieser unterschiedlichen Trainingsmethoden ist jedoch die Basis für alle Stile die gleiche. Der Muskel muss zunächst vorbereitet, das heißt, gestärkt werden. Interessanterweise beginnt man dafür mit dem leisesten was eine Stimme in der Lage ist zu produzieren: Mit der Randstimmfunktion, auch bekannt als Kopfstimme. Zunächst lernt der Schüler solch einen leisen Ton mit der der Tonlage angepassten appoggiatura (Atemstütze), dem angepassten palato (Gaumensegel) und der richtigen Position, im oberen Register sul fiato, (auf dem Atem) zu singen. Das klingt jetzt erstmal unglaublich kompliziert. In der Tat ist es auch ein sehr komplexer Vorgang, mit ein bisschen Geduld und Ausdauer jedoch für jeden/für jede, der/die will, machbar.
Es hat etwas sehr meditatives und tatsächlich gibt es Überschneidungen mit Tai Chi, Yoga und anderen Meditationstechniken, bei denen bestimmte Energiepunkte, Meridiane und Atemflüsse eine essenzielle Rolle spielen. Der Schüler/die Schülerin kommt in einen meditativen Zustand und erlangt einen sehr direkten Kontakt zu seinem/ihrem Körper. Diese Art Töne zu produzieren ist dann in allen Lagen, auch in der Höhe mühelos und wird von den meisten so beschrieben, als hätte man das Gefühl, das es „aus einem singt“ oder „der Ton von außen“ kommt. Diese Grundübungen stärken den Stimmmuskel soweit, dass der Schüler/die Schülerin nun für den nächsten Schritt bereit ist. Auch bemerkt er/sie oft eine allmähliche Verbesserung in der Sprechstimme. Er/sie ist z.B. weniger heiser (wenn es vorher dieses Problem gab), und hat jetzt schon mehr Kontrolle über die Stimme beim Singen und auch mehr Ausdauer.
Der nächste Schritt ist die Aktivierung der Resonanzräume und die Stärkung der sogenannten Mittelstimmigkeit. Dadurch bildet man den sogenannten Sängerformanten. Ein Frequenzbereich, der dafür sorgt, dass man als Sänger oder Sängerin über ein Orchester kommt, bzw. die Stimme wirklich trägt. Nur die menschliche Stimme kann diesen Frequenzbereich erreichen. Durch diese Arbeit wird sozusagen das „interne Mikrofon“ des Menschen aktiviert. Das ist vor allem für die Klassik wichtig, da man hier ohne Mikrofon singt. Aber auch für die anderen Stile ist dies sicherlich kein Nachteil. Wenn auch dieses Level absolviert ist, wird es spannend, denn dann hat man seine ureigene Stimme gebildet – daher die Bezeichung Stimmbildung – und kann den Weg Richtung Pop, Rock und Co oder Richtung Klassik gehen, was bedeutet, dass man mit der Erarbeitung der entsprechenden Literatur beginnen kann.
Auch für mich ist dies definitiv der spannendste Moment und kommt einer Offenbarung gleich. Denn erst jetzt wird das ureigne Timbre des Schülers, der Schülerin erkennbar, welches unverwechselbar ist, vergleichbar mit einem musikalischen Fingerabdruck. Ich vergleiche diesen Prozess der Stimmbildung gerne mit dem Prozess eines Bildhauers, der im Verborgenen einen Stein bearbeitet und dann in der Öffentlichkeit die fertige Skulptur enthüllt. Das man bis zu diesem Punkt ausschließlich Technik macht, mag auf den ersten Blick langweilig erscheinen und sicher ist dies auch definitiv ein bei GesangslehrerInnen unüblicher Weg. Aber es gibt ein paar absolut entscheidende Vorteile.
Erstens hat der Schüler/die Schülerin sowieso erst einmal genug damit zu tun, den Prozess bis dahin zu meistern. Seine/ihre gesamte Konzentration und Aufmerksamkeit wird hierbei gefordert. Eine zeitgleiche Beschäftigung mit Text oder gar Interpretation ist schlicht nicht möglich und würde komplett überfordern. Zweitens ist die Stimme noch nicht in der Lage auf eine entspannte und daher gesunde Art Stücke, und vor allem bestimmte Passagen in der Höhe, oder aber auch in der Tiefe zu bewältigen. Weil, und das ist der dritte und wichtigste Punkt: Die Stimmmuskeln sind erst nach diesem vorher beschriebenen Prozess so gebildet, dass es für sie in allen Lagen mühelos ist zu erklingen. Unlösbare Intonationsproblem, Probleme mit dem Atem, Probleme im Passaggio, in der Höhe oder in der Tiefe, bei den Übergängen, Probleme beim Text, etc. sind im Großen und Ganzen schlicht nicht vorhanden, bzw. können sehr leicht korrigiert werden. Da die Stimmmuskeln nun entsprechend geformt sind, die Technik nun vom Körper gespeichert wurde und weitgehend automatisch abläuft, kann man sich nun mit Freude auf die jeweilige Arie, den Song oder das Lied stürzen, singen und hat sogar auch noch Kapazität zu interpretieren. Und genau, da will man als Hobby- oder ProfisängerIn doch hin, oder?
Natürlich ist die stimmliche Entwicklung hier nicht zu Ende, aber der Grundstein ist gelegt und es geht nun darum die Stimme weiterzubilden, Kondition aufzubauen und durch verschieden Stücke sein Repertoire zu erweitern, sich Stücke zu eigen machen, „in den Körper“ zu singen. Für mich ist der Sänger/die Sängerin neben dem Musiker-Sein auch ein Hochleistungssportler, für den die verschiedenen Stücke wie Hindernis-Parcours sind, die es zu bewältigen gilt. Und dafür braucht man einen entsprechend geformten Muskel. Schließlich kann man unbeschadet auch erst ins tiefe, wilde Wasser gehen, wenn man schwimmen kann und die entsprechende Kondition dafür hat.
Im Ordner Tutorials erkläre ich die wichtigsten Funktionen.